Secreta mulierum digital
Die Handschrift
Das im Besitz der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg (Frankfurt am Main) stehende Ms. germ. oct. 60 wurde Ende des 15. Jahrhunderts verfasst, seine genaue Provenienz ist allerdings, abgesehen von den Vorbesitzern, deren Namen mit der Jahreszahl 1853 auf Seite 1r vermerkt sind, unbekannt (vgl. Weimann 1980:152). Ein späterer Eintrag auf Blatt 117v ist auf das Jahr 1655 datiert.
Das Manuskript besteht aus insgesamt 117 Blättern, die nachträglich mit arabischen Ziffern foliiert wurden. Von diesen enthalten 1r-108v unter Aussparung von 1v tatsächlich Text und sind doppelseitig mit maximal 33 Langzeilen beschrieben. Es ist betitelt (1r) und nach einer einleitenden Vorrede in Haupttext und Kommentar gegliedert, wobei Glossen direkt an die relevanten Abschnitte anschließen und in ihrer Form den restlichen Kapiteln gleichen. Die Seiten 107v-108r enthalten einen kurzen Überblick über die vorangegangenen Kapitel und deren Inhalt, der in zwölf Themengebiete gegliedert wird. Der Text liegt stellenweise in falscher Reihenfolge vor, so sind die Seiten 4r-5v inhaltlich nach 10v einzuordnen, was im Zuge der Textpräsentation berichtigt wurde. Da der Buchblock beschnitten wurde, sind nur an einigen Stellen noch Kustoden auszumachen, deren ursprüngliche Anzahl ist nicht mehr zu ermitteln.
Die Secreta mulierum
Bei den Secreta mulierum (SM) handelt es sich nicht um einen an Medizin praktizierende Leser gerichteten Text, vielmehr haben sie primär die „Generationenlehre in der Tradition von Aristoteles und Avicenna” (Bosselmann-Cyran 1985:13) zum Gegenstand, wobei astronomischen und physiologischen Faktoren und ihrem Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung menschlichen Lebens bis zur Geburt besondere Beachtung geschenkt wird. Die SM behandeln frauenmedizinische Themen gemäß der naturwissenschaftlichen Tradition des mittelalterlichen wissenschaftlichen Diskurses, die ein theoretisches Verständnis der Funktionsweise des menschlichen Körpers und seiner makrokosmischen Einordnung zentrierte. Dieser Hintergrund erklärt auch die Privilegierung von iatromathematischen (astronomisch-astrologischen) vor praktischen, medizinischen Themen in den SM (vgl. Lemay 1992:13), neben diesem ein unter Angehörigen der Oberschicht in Verbindung mit einer „geänderte[n] Auffassung über die Physiologie der Empfängnis” (Bosselmann-Cyran 1997:158) wachsendes Bedürfnis nach sexueller Aufklärung steht.
Spätestens ab „Mitte des 14. Jahrhunderts” (Bosselmann-Cyran 1985:10) sind glossierte Ausgaben der SM belegt, wobei hier nach Thorndike auf jeden Fall fünf verschiedene Kommentare bestimmt werden können (vgl. Bosselmann-Cyran 1985:10). Im darauffolgenden Jahrhundert wurden sieben verschiedene deutschsprachige Übersetzungen angefertigt (vgl. Bosselmann-Cyran 1997:150), von denen zwei aufgrund ihrer breiten Nachwirkung von der Forschung mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wurden (vgl. Kruse 1996:20).
Der konkrete Entstehungskontext der SM lässt sich auf zwei Szenarien eingrenzen: Der Stil und die Glossierung deuten auf einen universitären Ursprung hin, während die Adressierung von fratres schon Thorndike auf einen Verfasser aus dem monastischen Milieu schließen ließ (vgl. Thorndike 1955:434). Sollte der Text im Umfeld einer Universität entstanden sein, merkt Lemay weiter an, dass deren akademisches Niveau nicht sonderlich hoch gewesen sein konnte (vgl. Lemay 1992:14-15).
Namentlich als Urheber einer dieser Textfassungen bekannt ist Johannes Hartlieb, der in den 1460er Jahren (vgl. Bosselmann-Cyran 1997:150) seine Übertragung mit einer Übersetzung ausgewählter Passagen aus den drei Trotula-Traktaten kombinierte. Er widmete sein Werk sowohl Herzog Siegmund von Bayern-München (vgl. Haage / Wegner 2007:236) als auch Kaiser Friedrich III., für die er jeweils distinkte Prologe verfasste (vgl. Bosselmann-Cyran 1985:7-8). Hartlieb war als Leibarzt der Wittelsbacher umfassend medizinisch gebildet und ließ seine Expertise in die Übersetzung der SM einfließen (vgl. Bosselmann-Cyran 1985:29) – so umfasst seine Textfassung nicht nur eine Übersetzung einer glossierten Variante der SM, sondern auch Passagen aus anderen einschlägigen Werken sowie eigene kommentierende Anmerkungen, da er in seiner Funktion als langjährig praktizierender Mediziner keine allzu hohe Meinung von der fachlichen Qualität der SM hatte (vgl. Bosselmann-Cyran 1985:31-33).
Eine zweite deutschsprachige Fassung wurde im „oberdeutschen Raum” (Bosselmann-Cyran 1985:15) Ende des 15. Jahrhunderts von einem anonymen Bearbeiter, vermutlich aus dem bürgerlichen Umfeld, erstellt (vgl. Schleissner 1991:115). Anders als Hartlieb war dieser nicht daran interessiert, den lateinischen Text aufzubessern und hielt sich strikter an seine Vorlage. Die sich durch den gesamten Text ziehende Praxis, deutsche Entsprechungen zu lateinischen Fachbegriffen anzubieten, weist auf einen gewissen Grad an akademischer medizinischer Bildung des Bearbeiters hin, die vom Publikum scheinbar nicht erwartet wurde. Das im Zuge dieser Edition bearbeitete Manuskript Ms germ. oct. 60 ist einer von 15 bekannten handschriftlichen Textzeugen (vgl. Bosselmann-Cyran 1997:151) dieser Textfassung.